Ein vegetarischer Faust?

Heute vor 275 Jahren wurde Johann Wolfgang von Goethe geboren. Der berühmteste Bewohner Weimars war vieles: Poet, Theaterdirektor, Gärtner, Bestsellerautor, Minister für Bergbau, Eisläufer, Schauspieler, Tagebuchschreiber, Weinliebhaber, Naturforscher und vorübergehend sogar Mode-Ikone (die „Werther-Tracht“) – eines war er aber definitiv nicht: Vegetarier.

Trotzdem versuchten manche Vegetarier des 19. Jahrhunderts den Bogen vom Dichter zu ihrer Herzensangelegenheit zu spannen.

Dass der empfindsame, dem Materialismus abgekehrte Werther hundert Jahre später vielleicht Vegetarier gewesen wäre, ließe sich durchaus argumentieren. Wie Max Engelmann aber im Faust eine „vegetarische Weltanschauung“ aufspüren wollte, erschließt sich nicht auf den ersten Blick. Engelmann hielt 1883 einen Vortrag zu diesem Thema. Eine schriftliche Fassung davon, im selben Jahr publiziert, ist in der digitalen Sammlung der Herzogin Anna Amalia Bibliothek in Weimar einsehbar und eine passende Lektüre für den Geburtstag des Dichters1.

Max Engelmann

Zu Engelmann gibt es wenig gesicherte biografische Angaben: 1849 geboren lebte er in Schlesien und ab 1900 in der Schweiz, wo er gemeinsam mit seiner Ehefrau in der Nähe von Locarno eine vegetarische Pension betrieb2. Engelmann war in der vegetarischen Szene vernetzt und aktiv. Er publizierte Gedichte und weltanschauliche Schriften.

Die „vegetarische Weltanschauung in Goethes Faust“

Engelmann begann seinen Vortrag mit der kulturpessimistischen Feststellung, dass in hoch zivilisierten Gesellschaften der „Kampf ums Dasein“ am größten wäre, was aus seiner Sicht mit den gestiegenen Bedürfnissen der Menschen zusammenhänge. Unzufriedenheit und das Unvermögen zu Lebensfreude waren seiner Meinung nach Krankheiten der Zeit und das grundsätzliche Problem in (Kultur-)Nationen. Diese Vorstellungen waren am Ende des 19. Jahrhunderts weit verbreitet und punktuell auch in der vegetarischen Bewegung anzutreffen. Die Lösung aus Sicht von Engelmann (und andere Vegetarier/innen dürften ihm da beigepflichtet haben) war „alle Lebensbedürfnisse auf das natürliche Maß zu beschränken“3, wie es der Vegetarismus mache, wobei er die Unterscheidung zwischen Vegetarismus als reiner Ernährungsfragen bzw. einer Weltanschauung betonte.

Engelmann verstand sich nicht als genussfeindlich. Im Gegenteil, er sah eine naturgemäße Lebensweise als Schlüssel, um jenen Widerspruch aufzulösen, den er mit einem Zitat von Goethes Freund und Zeitgenossen, Friedrich Schiller, folgendermaßen auf den Punkt brachte: „Zwischen Sinnenglück und Seelenfrieden bleibt dem Menschen nur die bange Wahl!“4.

Auch Goethes Faust präsentierte Engelmann als gefangen in dem Spannungsverhältnis dieser beiden Pole. Mit sehr vielen Zitaten aus Goethes Werk führte er aus, dass er Faust quasi als den Prototyp des unzufrieden und unglücklichen modernen Menschen betrachtete. Engelmann rief seinem Publikum das Stück ins Gedächtnis: Faust wurde von Mephisto darin bestätigt, sich – auch aus Enttäuschung über die Wissenschaft – „sinnlichen und materiellen Genüssen hinzugeben“5, auch wenn er daran zweifelte, ob das der geeignete Weg zur Erfüllung sei. Trotzdem versuchte er „Im Rauschen der Zeit […] sein tiefes Weh zu betäuben“6.
Nach dem Darlegen der Ausgangssituation fasste Engelmann Fausts Abenteuer mit Mephisto zusammen und sah Faust schließlich geläutert: Am Ende des Stückes (Faust II) und seinem Lebensende formulierte Faust den Wunsch, anderen Gutes zu tun (bewohnbares Land zu schaffen). Diese Absage an das egoistische Streben nach eigenen sinnlichen und materiellen Vorteilen sah Engelmann nicht nur als allgemeines Vorbild. Sondern aus seiner Sicht war die Tragödie „eine Entwicklungsgeschichte der vegetarischen, d.h. der gesunden, natürlichen Weltanschauung, welche jedes Extrem ausschließt“ und welche die instinktive Hoffnung des Menschen, „dass seiner irgendwo Genuss, Friede und Freude wartet“7 nicht erst im Jenseits, sondern auf der Erde erfüllen könne.

Möglichen Einwänden, dass Goethe mit Vegetarismus nichts zu tun hatte, hielt Engelmann vorausschauend entgegen, dass Goethe in seinen literarischen Werken und seinem Leben sehr naturverbunden war und der Glaube an die Natur schließlich das Wesen des Vegetarismus (in der Definition einer naturgemäßen Lebensweise) sei, ebenso wie das Bestreben „Sinnenglück und Seelenfrieden in sich zu vereinen“8. Nachdem er so auch Schiller wieder in seinen Vortrag aufnahm, machte er nochmals explizit deutlich: „So kann ich wohl kühn behaupten, dass Schiller und Göthe [sic], wäre ihnen der Vegetarismus als ausführbares Princip entgegengetreten, sie denselben in vollsten Umfange anerkannt und im ungünstigsten Falle mit Faust gesagt hätten: >Ich bin es nicht gewöhnt<“9.

Fazit

Der Versuch, ein Standardwerk der deutschen Literatur im vegetarischen Sinn zu interpretieren, kann durchaus als Strategie gesehen werden, über den „Promi“ Goethe und die bekannte Faust Dichtung Aufmerksamkeit und Verständnis für das eigene Anliegen zu bekommen.
Engelmanns Vortrag stellte auch einen Versuch dar, über Bekanntes die Berührungsängste mit dem Vegetarismus zu mindern.
Er zeigte darüber hinaus die Verortung der vegetarischen Bewegung im deutschen Bürgertum und dessen Kultur- und Vorstellungswelt.

Engelmanns These der „vegetarischen Weltanschauung in Goethes Faust“ stellt vor allem ein interessantes Dokument für einen kulturwissenschaftlichen Aspekt des Vegetarismus Ende des 19. Jahrhunderts dar. Engelmann war einer jener Vegetarier, die nach Sinn und Zweck des Lebens jenseits von Materialismus, aber auch Religion und Spiritualität suchten. Sie waren den (Natur-) Wissenschaften (ebenso wie der Technik und Industrie) nicht abgeneigt, aber auch nicht überzeugt, dass sie die Lösungen der (tatsächlichen oder vermuteten) Probleme der Zeit brächten. Rund um die gewaltfreie Ernährung und ein Leben mit der Natur entwickelten sie ein Lebenskonzept, das nicht weniger als paradiesische Zustände im Hier und Jetzt ermöglichen sollte.

 

Fußnoten:

1Engelmann, Max: Die vegetarische Weltanschauung in Goethes Faust. Vortrag gehalten am 22. Januar 1883 im Musiksaale der Königlichen Universität zu Breslau. Breslau: Langmann 1883; online unter https://haab-digital.klassik-stiftung.de/viewer/image/1237016126/4/.

2Eintrag zu Max Engelmann auf Zeitstimmen; online unter https://www.zeitstimmen.de/index.php?page=autor&is_autor=593 und Bruder-Bund und Pythagoräer-Bund; online unter https://www.gusto-graeser.de/doc/pdf/gusto-graeser.de_20180606_1885-bruderbund-wb.pdf.

3Engelmann: Weltanschauung 1883: 4.

4Aus dem Gedicht „Das Ideal und das Leben“; zitiert nach: Engelmann: Weltanschauung 1883: 9.

5Engelmann: Weltanschauung 1883: 17.

6Engelmann: Weltanschauung 1883: 21.

7Engelmann: Weltanschauung 1883: 32.

8Engelmann: Weltanschauung 1883: 32-34.

9Engelmann: Weltanschauung 1883: 34.


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Birgit Pack (28. August 2024). Ein vegetarischer Faust? Vegetarisch in Wien um 1900. Abgerufen am 11. Mai 2025 von https://doi.org/10.58079/127dg


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